Barber – der neue Kult ums Ich

 

Die Schlange am Broadway Ecke Astor Place reicht bis in den Keller. Ein junger Mann im Business-Anzug, ein Polizist in Uniform, eine Frau mit quengeldem Kind und ein deutscher, der an einer Straßenecke einfach falsch abgebogen ist. Wir stehen hintereinander und warten. In den Kellergewölben des Frisiersalons sitzt 'Big Mike' auf einem Holzschemel hinter einer Milchglastür und schreibt die Vornamen der Wartenden auf, um sie später, von einem lauten „Attenzione!“ begleitet, aufzurufen. An den Wänden hängen vergilbte, speckige Fotos von Frisuren und Autogrammkarten von Kunden. "Dustin Hoffman, Robert de Niro und Spike Lee sind Stammkunden bei uns", sagt Big Mike. In einem altersschwachen, rachitisch hustendem Fernseher läuft Baseball, dazu dudelt unablässig laute Jazz-Musik aus dem Radio. Tabakduft hängt schwer in der Luft.

 

Seit 1940 gibt es den namenlosen Friseurladen im East Village, New York. Und das sieht man dem Laden auch an: Große, bequeme, abgewetzte Frisierstühle aus Kunstleder, riesige Spiegel, Ablagen, auf denen sich Dutzende Fläschchen, Dosen mit Talkum-Puder, Haar-Cremes, Brillantine, Gels und Pomaden türmen. Es riecht nach Seife und Rasierwasser. Altersschwache Rasierapparate surren, Scheren klappern, Menschen plaudern über Gott und die Welt, rauchen, Haare fallen zu Boden. Alles ist etwas in die Jahre gekommen und mit reichlich Patina überzogen – aber einfach nur stilvoll, cool und genial!

 

Neuerfindung des „klassischen“ Herrenfriseurs

 

Ortswechsel: Brüsseler Straße, Ecke Antwerpener Straße im hippen Belgischen Viertel in Köln. Fast 20 Jahre und hunderte Friseurbesuche später. Hier, eingebettet zwischen Restaurants, Cafés, Bars und schrillen Anarcho-Kneipen hat Marco Marciano in seinem ‚Barbershop Cologne‘ die alte Tradition des Barbiers aufgegriffen und seinem Herrensalon ein  Oldstyle-Outfit verpasst: Dunkle Vertäfelungen, gerahmte Spiegel, historische Fotos an den Wänden, gekonnt in Szene gesetzte Antiquitäten, klassische Frisier-Accessoires, historische  Rasiermesser und – natürlich – in Italien gefertigte, Frisierstühle im Retro-Design.

 

„In Italien gibt es den Barbier ja noch. Das Handwerk wurde  über  Generationen  weitergegeben. In Italien gibt es auch keine Ausbildung wie hier in Deutschland, aber man lernt alle Skills, die man später braucht“, sagt Marco. „Ein Herrenfriseur  muss  keine  Dauerwellen machen können.“ Frauen sucht man hier deshalb auch vergebens. Doch das ist nicht der einzige Grund. Die Gesprächsthemen seien einfach andere, wenn man unter Männern sei. „Die Männer hier trinken einen Whisky, dazu gerne auch eine Zigarre oder Pfeife, dürfen reden, wie sie wollen“, verdeutlicht der Kölner Figaro mit italienischen Wurzeln. Und ein Buch mit angesagten Frisuren bräuchte es eigentlich nicht: Der Kunde kann sich seine Inspiration für den neuen Haarschnitt und dem dazu passenden Bekleidungsstil gleich am haarschneidendem Subjekt holen.

 

Abstecher in die 50er

 

Denn jeder der Barbiere hier ist für sich schon ein Unikat, das mal den Typus des modernen Gentleman verkörpert, mal direkt mitsamt Körperschmuck und Tätowierung der Rockabilly-Ära entsprungen scheint. Mit viel Liebe zum Detail ist hier ein Männerbiotop entstanden, in dem es eben nicht nur um Haarschnitt oder Messerrasur geht, sondern um ein kulturelles Gesamterlebnis. Entspannt, cool und darauf ausgelegt, ohne Zeitdruck sich voll und ganz der stilvollen Haarpflege hinzugeben, einen Drink „unter Freunden“ zu genießen oder sich einfach entspannt zurückzulehnen, zum Beispiel eine kräftige Buena Vista Dark Fired Kentucky zu rauchen, und sich zum Klappern der Schere gleich den passenden Harley-Sound mitzudenken.   

 

Trend zur Individualität

 

Der ‚Barbershop Cologne‘ ist jedoch kein Einzelfall. Er ist Teil eines Trends, der seit knapp einem Jahrzehnt das Mann-sein wieder in den Vordergrund rückt, in der Mode ein „everything goes“ propagiert, Haupt- und Barthaar als ein Statement der Individualität betrachtet und mit neuem Selbstbewusstsein auch offensiv zeigt. Zwei Menschen sind an beiden Enden der Schere, interagieren, tauschen sich direkt aus. Und mit seiner handwerklichen Komponente ist der heutige Barber Shop ein Zeitphänomen genau wie Craft Beer, Garagenweineoder rahmengenähte Schuhe und Maßanzüge. Eingebunden in den Stadtteil, übernimmt er zudem gleichsam die Funktion als sozialer Ort, ist Kneipe, Kiez-Treff und Herrenclub zugleich. Das sieht auch Marco so: „Hier pflegt  man noch gute Nachbarschaft. Man setzt sich abends nach Feierabend noch auf ein Bier zusammen und  lässt  den  Abend  gemeinsam  ausklingen. Wir  sind  ein  Treffpunkt,  fast  wie  eine  Stammkneipe.“

 

Um das Phänomen ‚Barber Shop‘ noch besser zu verstehen, lohnt ein kurzer historischer Rückblick. Bis weit in die 1960er-Jahre war es für Männer auch in Deutschland nicht ungewöhnlich, sich einmal die Woche die Haare nachschneiden zu lassen. Goldene Zeiten für ein Handwerk, die jäh mit Beat- und Flower-Power-Bewegung in den 60ern endete. Es war plötzlich nicht mehr „in“ gut und vor allem professionell frisiert zu sein. Die Haare wurden länger, die Bärte wucherten wild bis weit in die 1970er im Che Guevara- Look. Aus einer uniformen war in rasender Geschwindigkeit eine individualistische Gesellschaft geworden, die sich auch über Haare definierte, als Beispiel sei das erfolgreiche Musical „Hair“ genannt, sich über die Haarlänge abgrenzte und sich als antibürgerlicher Gegenentwurf  zu den penibel frisierten Spießern betrachtete.

 

Als Gegenbewegung setzte in den späten 1970ern und frühen 1980ern mit dem Beginn der Pop(per)-Kultur ein Run auf Föhnfrisuren, Färbungen, Strähnchen ein, die einem in teuren, neuen Friseurläden in den Top-Lagen der Städte von als Stars gefeierten Friseuren verpasst wurden. Unentspannte Eitelkeit war beim Mainstream dann lange Programm. Erst mit den Punkfrisuren der 1980er ist wieder eine alternative Haarkultur - zunächst in New York und London - entstanden, die klare Zeichen für einen Trend setzte, der heute mit den Barber Shops seine konsequenteste Umsetzung findet: Den Trend zur maximalen Individualität. Der Trend zum bewussten, genussvollen Umgang mit sich und seiner Zeit. Dem Bestreben, von Kopf bis Fuß seinem ureigenen Stil Ausdruck zu verleihen.

 

Friseurbesuch als Gesamterlebnis

 

Das zeigt sich heute eben nicht nur auf der Schädeldecke sondern auch und vor allem bei der Wiederentdeckung der Gesichtsbehaarung. Ein gepflegter Bart gehört heute ebenso dazu wie coole Tattoos und kreative Haarschnitte, bei denen die Friseure alte und neue Handwerkskunst zeigen können. Und das in einem stilvollen Ambiente, in dem auf Produkte klassischer Hersteller zurückgegriffen wird, alte Traditionen wiederentdeckt, weiterentwickelt und dadurch neue Traditionen begründet werden. Der Friseurbesuch als Gesamterlebnis: Eine gute Zigarre, ein Kaffee in Barista-Qualität, Whisky oder Vintage-Rum. Einen coolen Haarschnitt gibt es natürlich auch. Aber der ist hier Nebensache.

 

Text: Lars von Rehbinder

Fotos:Arnold André- The Cigar Company

Weitere Informationen finden Sie unter www.arnold-andre.info.

 

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