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East Ohio Street/ North State Street

Die Metropole am Lake Michigan hat viele Namen. „Windy City“ ist einer davon. Heute kann es für Chicago keinen treffenderen geben.

Zwei Männer stehen Schulter an Schulter im eiskalten Wind und saugen gierig an ihren Zigaretten. „Wenn Du jetzt einschläfst, man, wachst Du nicht mehr auf. Du musst laufen, man, laufen. Den ganzen Tag.“, sagt er, und nickt zur Bestätigung bei jedem Wort energisch. Der das sagt, muss es wissen. Seit fünf Jahren lebt Tyrone als einer von über 90.000 Obdachlosen auf den Straßen von Chicago und er kann sich nicht erinnern, dass es jemals so kalt gewesen wäre.

„Auf der Straße leben ist schon hart genug. Aber, man, die Kälte hier killt dich.“ Wir stehen an der Ecke East Ohio Street/ North State Street, ziehen warmen Zigarettenrauch tief in die Lungen. Gegen die grimmige Kälte und gegen den Wind, der die gefühlte Temperatur jetzt um kurz nach halb sieben am Abend schon auf unter minus 38 Grad Celsius drückt. Mit seiner Augenklappe, der verbeulten Army-Mütze, den zwei wattierten Jacken, die er übereinander trägt und den Springerstiefeln sieht er verwegen aus, ganz so, als könne er sofort wieder in einen nächsten Golfkrieg ziehen. Den Zweiten Golfkrieg hat er zumindest physisch gesund überlebt. Nichts in der Welt konnte diese farbige Ausgabe des israelischen Haudegen und ebenfalls Augenklappenträger, Mosche Dajan, umhauen. Das war sicher auch einmal so. Als er noch jünger war. Als er noch bei den US-Streitkräften war. Auch in Deutschland. Auch 1991 im Irak unter General Norman Schwarzkopf Junior. Und später, nachdem er die Army verließ, als Autohändler, Gelegenheitsarbeiter und Musiklehrer an einer High School. Doch das ist lange her. Mehr als 20 Jahre. Jetzt ist er 58, das Gesicht tief von Falten durchzogen und eingefallen. Kaum ein Zahn ist ihm geblieben. Eine Fingerkuppe der linken Hand hat er letzte Woche verloren. Wie und wo, das will Tyrone nicht verraten.

„Seit 1384 Tagen bin ich jetzt clean“

„Im Sommer ist das kein Problem, auf der Straße zu leben. Da schlafe ich dann irgendwo am Navy Pier oder im Lincoln Park. Man, im Winter ist es aber die Hölle. Wenn die Security mich lässt, schlafe ich in der Bahn. Sonst laufe ich durch die Straßen. Stundenlang. Die ganze Nacht.“ Ein weiterer Windstoß zwängt sich grimmig durch die Häuserschluchten, lässt unsere Zigaretten hell aufglimmen und sucht mit tausend kleinen Nadeln nach einer unbedeckten Körperstelle. Wir drücken uns noch näher an die Hauswand, verlagern das Körpergewicht abwechselnd mal auf das linke, mal auf das rechte Bein. Die erste Zigarette ist im hohen Bogen auf der schneebedeckten Straße gelandet, die nächste ist schon entzündet. „Seit 1384 Tagen bin ich jetzt clean“, verrät Tyrone und lenkt gleich mit der Frage nach dem Wetter in Berlin ab, um mögliche Nachfragen zu vermeiden. Melissa aus dem Café nebenan hat uns offenbar entdeckt und kommt mit zwei Bechern dampfenden Kaffees in der Hand vor die Tür. „Dafür kann ich´rausfliegen“, sagt sie, und ihr Gesichtsausdruck lässt trotz des breiten Lächelns keinen Zweifel daran aufkommen, dass sie es verdammt ernst meint. „In Deutschland ist alles besser. Da hatte ich eine richtig gute Zeit. Man, und die Frauen dort - wow!“, sagt Tyrone und fängt jetzt an, die deutsche Nationalhymne zu summen. Erst ganz leise tut er dies, jeden Ton fast ehrfürchtig über die Lippen bringend, unsicher, dann immer lauter, um dann politisch nicht ganz korrekt mit einem gesprochenen „Deutschländ, Deutschländ uber alles“ zu enden.

„Hab‘ einfach eine gute Zeit“

Zwei Männer stehen Schulter an Schulter im kalten Wind, trinken heißen Kaffee und saugen gierig an ihren Zigaretten. Einer wird sich gleich auf den Weg in ein Nobelrestaurant machen, der andere wird durch Chicago laufen, um nicht einzuschlafen, um nicht zu erfrieren. Als hätte Tyrone meine Gedanken gelesen, sagt er „Heh, man, es geht immer weiter. Hab‘ einfach eine gute Zeit in meiner Stadt.“ Tyrone zwinkert mit seinem verbliebenen Auge, wir schlagen zum Abschied die behandschuhten Fäuste aufeinander und er zuckelt, den Kopf tief zwischen die Schultern gezogen,  rauchend los in eine weitere lange Nacht.

Autor: Lars Graf Rehbinder

Fotos: LvR